An den vier Enden der Welt
An den vier Enden der Welt
Terra Madre Salone del Gusto: das Welttreffen des Slow-Food-Netzwerks und die Slow Wine-Coalition
19. Oktober 2022
In einer Zeit, in der eine politische Krise und globale Katastrophe auf die andere folgt, kommt dem individuellen, privaten und ganz persönlichen Lebenskreis eine besondere Bedeutung zu. Hier kann und muss jeder Einzelne entscheiden, wie er lebt – und das jeden Tag.
Einer der Bereiche, in dem wir eine eigene, alltägliche Verantwortung tragen, ist die Ernährung. Dabei berührt unsere Ernährung nicht nur unsere eigene Gesundheit, unser Wohlbefinden und Lifestyle, sondern auch das Leben anderer, weit weg, in aller Welt. Hier sichert die Art und Weise unserer Ernährung Existenzen, beeinflusst gesellschaftliche Strukturen, erhält Natur und Umwelt, fördert soziale Gerechtigkeit und stellt damit die Weichen für die Zukunft der Menschheit – auch wenn das ein großes Wort ist. Nicht zuletzt kann Essen eine Brücke zum Frieden sein, weil durch genau diese Verknüpfungen globale Ernährungsbewegungen entstehen, die jenseits von Zeitgeist und politischen Strömungen nach einem weltweiten Dialog und gemeinschaftlichen Lösungen rufen.
Solche Fragen, aber auch mögliche Antworten und Lösungen standen im Mittelpunkt der weltweit größten internationalen Veranstaltung zu Ernährung, Lebensmittelpolitik, nachhaltiger Landwirtschaft und Umweltschutz, die vom 22. bis 26. September von Slow Food, der Region Piemont und der Stadt Turin organisiert wurde: Terra Madre Salone del Gusto.
Das zweijährig stattfindende Welttreffen des Slow-Food-Netzwerks hat das Ziel, eine alternative Zukunft für unsere Ernährung aufzuzeigen, und zwar durch die täglichen Ernährungsentscheidungen eines jeden Einzelnen, durch das kollektive Engagement von lokalen Gemeinschaften und durch Veränderungen in öffentlichen und privaten Institutionen. In diesem Jahr fand Terra Madre zum 14. Mal statt. Landwirte, Bäcker, Metzger, Käsehändler, Nudelhersteller, Imker, Chocolatiers, Brauer, Destillateure, Winzer und mehr – aus Italien und der ganzen Welt haben über 3000 Delegierte aus 130 Ländern und über 700 Aussteller an der Veranstaltung teilgenommen, mehr als 300.000 Besucher sind gekommen.
Slow Food ist ein weltweites Netzwerk lokaler Gemeinschaften, das 1989 gegründet wurde, um dem Verschwinden lokaler Lebensmitteltraditionen und der Verbreitung der Fast-Food-Kultur entgegenzuwirken. Seitdem ist Slow Food zu einer globalen Bewegung gewachsen, die Millionen von Menschen in mehr als 160 Ländern einbezieht und sich dafür einsetzt, dass wir alle Zugang zu guten, sauberen und fairen Lebensmitteln haben. In Turin hat man Lebensmittelerzeugerinnen und -erzeuger mit Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt zusammengebracht mit der Aufforderung, diesen Wandel aktiv mitzugestalten.
Das Thema von Terra Madre mit dem grafischen Motiv des immerwährenden positiven Kreislaufs lautete dieses Jahr „RegenerAction“ – ein Wortspiel, das auf die Notwendigkeit hinweist, aktiv Maßnahmen zur Regeneration unserer Ernährungssysteme zu ergreifen. Wenn von Regeneration auf unseren Tellern gesprochen wird, so meint das eine grundsätzlich neue Sicht auf die Ernährung, die beispielsweise mehr Wert auf Hülsenfrüchte oder Wildfrüchte und eine reiche biologische Vielfalt legt. Slow Food vertritt zum Thema einen (öko)systemischen Ansatz, der politische Grenzen überwinden und den Erfahrungsschatz von Gemeinschaften in allen Teilen der Welt nutzen will. Gemeinschaften werden als Ausdruck einer Innovationsoffensive angesehen, die stets lokal verwurzelt und sich der Aktualität und weitreichenden positiven Effekte ihrer Traditionen bewusst ist.
Der internationale Markt mit all seinen Farben, Aromen und Stimmen bildet seit jeher das Zentrum des Terra Madre Salone del Gusto. Hierzu gab es Konferenzen, Vorträge, Erlebnisstationen für Kinder und Familien, Geschmackserlebnisse und vor allem interaktive Bereiche zu den Themen biologische Vielfalt, Bildung und Aufklärungsarbeit.
Insgesamt brachte es Carlo Petrini, Begründer und Präsident der Slow Food Bewegung, auf den Punkt: „Terra Madre ist keine Lebensmittelmesse, sondern ein politisches Event.“ Nina Wolff, Mitglied des Vorstands von Slow Food und Vorsitzende von Slow Food Deutschland, präzisierte: „Lösungen für die Probleme der Menschheit können nicht in einem „Top-down“-Ansatz von oben nach unten erreicht werden, sondern durch die Stärkung des Netzwerks örtlicher Gemeinschaften und die Unterstützung durch deren Wissen, Erfahrung und Innovationsfähigkeit.“
Eines der Bündnisse, mit denen Slow Food Innovationen generiert und Ziele umsetzt ist die Slow Wine-Coalition, ein internationales Netzwerk von Protagonisten aus der Welt des Weins, die eines gemeinsam haben – eine Leidenschaft für guten, sauberen und fairen Wein.
Die Weinbranche hat heute mehr denn je eine größere Pflicht, als nur wohlschmeckende Flaschenfüllungen zu liefern. Sie hat die Verantwortung, durch nachhaltiges Wirtschaften im Weinberg wie im Keller einen positiven Einfluss auf die Landwirtschaft im Allgemeinen auszuüben und die ihr anvertraute Natur zu schützen und zu bewahren. Noch immer werden weltweit zu viele Chemikalien in der Weinherstellung eingesetzt und der Biodiversität zu wenig Beachtung geschenkt. Allerdings gibt es gerade in deutschen Anbaugebieten immer mehr Betriebe, die mit größerem Respekt für die Umwelt arbeiten und andere ermutigen, über die Vorteile einer langsameren und ressourcenschonenden Herangehensweise an die Weinherstellung nachzudenken.
Die Hunderte von Winzern, die sich bislang der Slow Wine Coalition angeschlossen haben, sind ein erster Ausdruck des wachsenden Wunsches, guten, cleanen und fairen Wein zu produzieren und zu konsumieren. Zentrale Veranstaltung und Plattform für den Erfahrungsaustausch ist die Slow Wine Fair in Bologna, die zum zweiten Mal im Februar 2023 stattfinden wird. Aber auch für Terra Madre Salone del Gusto war der Wein schon immer einer der Wegbereiter. Bei einigen freien und mehreren kostenpflichtigen Workshops konnte man in diesem Jahr schmecken, wie Wein die Regeneration in der Landwirtschaft anregen kann und mehr darüber erfahren, wie Erzeuger in Italien und in weiteren Ländern arbeiten, um eine gesündere Beziehung zur Erde aufzubauen und zu festigen.
Wer nachschlagen will, welche Weingüter im Sinne der Slow Wine Coalition produzieren und sich Empfehlungen für entsprechende Weine holen will, kann sich am englisch- und italienischsprachigen Slow Wine Guide orientieren. Die Weingüter werden mit einer Reihe von Symbolen bewertet: Schnecken für beispielhafte Slow-Food-Werte, Flaschen für ausgezeichnete Qualität und Münzen für ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Dazu gibt es jeweils eine kurze Erzählung, die in die Abschnitte Menschen, Weinberge und Weine unterteilt ist.
Ich habe auf der Terra Madre Salone del Gusto in Turin mit Jonathan Gebser aus der Redaktion von Slow Wine gesprochen. Im Hörerlebnis stellt Jonathan Gebser die Slow Wine Coalition vor mit ihrem Manifest, den Zielen, den Herausforderungen der Branche und den Lösungsansätzen von Slow Food.
Fotos: © Slow Food Terra Madre;
Fotos Luftschiff und Schinken: © D.R.
HÖRERLEBNIS mit Jonathan Gebser