An den vier Enden der Welt
An den vier Enden der Welt
Rocca di Montegrossi im Chianti Classico: Biologischer Weinbau, gepflegte Tradition und brillante Weine
Wenn die Weinlagen zu den besten Italiens gehören, wenn die Familie einer der ältesten Weinerzeuger des Landes ist und wenn man dann noch den Weinbau an den modernsten und obendrein biologisch-ökologischen Verfahren ausrichtet, dann ist es keine Überraschung, dass hier Weine entstehen, die zu den großartigsten und brillantesten Italiens gehören – und zu den Top Five des Anbaugebiets Chianti Classico. Seit ungefähr zwanzig Jahren führt Marco Ricasoli-Firidolfi dieses Weingut: die Azienda Viticola Rocca di Montegrossi. Das Weingut liegt im besten Teil des Chianti Classico, in Monti, unweit von Gaiole, im Westen von Siena. Direkt neben der romanischen Pfarrkirche San Marcellino befindet sich die Kellerei. Hier, in der südlichen, am höchsten gelegenen Region im Anbaugebiet des Chianti Classico, wachsen die Reben auf wertvollsten Böden und bilden die außergewöhnlichen Eigenschaften des Terroirs ab.
Einer der einflussreichsten Persönlichkeiten aus den verschiedenen Linien von Ricasoli-Firidolfi ist Bettino Ricasoli. Er war im 19. Jahrhundert Verleger, Politiker und italienischer Ministerpräsident und gilt als Erfinder des Chianti. Auf seinen Reisen nach Frankreich und Deutschland studierte er intensiv den Weinbau und importierte zahlreiche Rebsorten, mit denen er aufgrund zahlreicher Experimente den Weinbau in der Toskana reformierte. 1872 schuf er mit seiner Rezeptur zur Komposition der Rebsorten für ein „ideales Cuvée“ die Grundlage für den Chianti. Für ganze Generationen von Winzern blieb diese Rezeptur ein verbindliches Vorbild und fand teilweise noch Eingang in das Disziplinare des Konsortiums: Bettino Ricasoli empfahl Sangiovese mit 75% als Hauptrebsorte, um das Bukett und die Kraft der Rebe auszunutzen, und zur Milderung 15% Canailo Nero. Die weiße Malvasia del Chianti wurde für junge, genussreife Weine als Zusatz vorgeschlagen, jedoch ausdrücklich für länger lagerfähige Weine ausgeschlossen. Des Weiteren waren 5% andere Rebsorten vorgesehen.
Marco Ricasoli-Firidolfi liebt die autochthonen Rebsorten seiner Heimat und baut deshalb auf rund 13 Hektar gerne den Sangiovese an, mit zunehmender Tendenz auch Colorino, Canaiolo, Pugnitello und Malvasia und Bianca del Chianti. Daneben hat er noch etwa 2,5 Hektar mit Merlot bestockt und einige Flächen mit anderen internationalen Rebsorten. Etliche Rebstöcke in den Weinbergen sind über 40 Jahre alt. Sie holen sich auch in trockenen Jahren über ihre langen Wurzeln das nötige Wasser und liefern Trauben mit hochkonzentrierten Extrakten. Man wäre nicht im Chianti Classico, wenn das Weingut nicht ganz überwiegend Rotweine machte, gleichwohl spielt Marco Ricasoli-Firidolfi gerne mit seinen weißen Rebsorten herum mit dem Ehrgeiz, auch hochwertige Weißweine zu kreieren. Dass sein Ehrgeiz zu genialen Ergebnissen führt, zeigt sein Vin Santo, der sich als einzigartige Rarität auf den ersten Rängen der edelsüßen Weine Italiens platziert hat.
Rocca di Montegrossi ist eines der in Italien eher noch wenigen ICEA-zertifizierten biologisch-ökologischen Weingüter: Seit dem Jahrgang 2011 tragen die Weine das Bio-Zertifikat. Im Weinberg und in den Olivenhainen, aber auch auf dem Weingut und in der Kellerei wird in jeder Beziehung nach streng reglementierten biologischen Grundsätzen gearbeitet. So wird etwa Regenwasser in Zisternen gesammelt, um für Reinigungsarbeiten im Keller kein wertvolles Trinkwasser zu verschwenden. Im Weinkeller wird ein Teil der Heizung mit Solarenergie betrieben. Strom fließt längst ausschließlich aus Quellen erneuerbarer Energien oder vom eigenen Solardach.
Marco Ricasoli-Firidolfi hat den richtigen Schritt in die Moderne getan: Neueste technische Innovationen und zugleich nachhaltiger Umgang mit der Natur in ihrer biologischen Vielfalt. Darüber hinaus ist er in der Tradition der Familie und des Genusses verwurzelt. In Ansehung der weiteren Ricasoli-Weingüter Castello di Brolio und Castello di Cacchiano heißt es, dass Marco Ricasoli-Firidolfi mit Rocca di Montegrossi sich am engsten und leidenschaftlichsten an den familiären Traditionen des Weinbaus orientiert. Er entscheidet und überwacht alles, was im Verlauf des gesamten Weinjahres unternommen wird, stets mit der Prämisse überragende Qualitäten zu erreichen.
Wir konnten vier Weine und das Olivenöl von Rocca Di Montegrossi verkosten.
Chianti Classico DOCG 2014
Im Glas sehen wir eine warme, kräftig rubinrote Farbe mit hellen, violetten Reflexen. In der Nase laden intensive und vor allem bemerkenswert fruchtige Aromen ein, die nicht nur der Sangiovese liefert: schwarze und rote Kirschen, blaue Zwetschgen, Brombeeren, Heidelbeeren, dazu schwärzliche Gewürze und eine Andeutung von Süßholz, etwas blonder Tabak, etwas Vanille, einige smoky Röstaromen. Im Mund dann ein tiefes und kraftvolles Chianti Classico-Erlebnis. Wir schmatzen auf einer herrlichen Fruchtigkeit herum, die von einem Potpourri aus Gewürzen, Kräutern, schwarzem Tee, Lakritze, einem Dash Zitrus und etwas Leder umrahmt wird.
Der stramme Körper zeigt sich mit einer lebendigen Säure, einer leichten Mineralität und den erstaunlicher Weise bis zur Sanftheit gezügelten Tanninen. Alles zusammen verschafft dem Wein einen ordentlichen Trinkfluss. Dazu passt der lange, durchaus in die Breite gehende Abgang, in dem wir neben dem präsenten, aber ordentlich untergebrachten Holz auch einige Rosen- und Minzblättchen wahrnehmen. Wir haben eine schöne, fruchtige und herzhaft strukturierte Harmonie im Glas mit einem runden Körper voller raffinierter Finesse. Der Chianti Classico DOCG 2014 orientiert sich stilistisch eher an den urtraditionellen Alte-Welt-Chiantis und weniger an der modernen Richtung. Er sollte vor dem Genuss unbedingt zwei Stunden lang in der Karaffe stehen. Dann passt er als authentischer Chianti perfekt zu einem klassischen Pizzagericht. Aber beleidigen Sie den Wein nicht mit einer Tiefkühlpizza.
Über Gran Selezione
Es ist sicherlich übertrieben, zu behaupten, dass die Einführung der Spitzenklasse Gran Selezione durch das Consorzio Vino Chianti Classico im Jahr 2011 den Chianti Classico retten sollte. Aber es war konsequent, die Freestyle Super-Tuscans mit einem Sangiovese-Anteil von mindestens 80% und den in den Riservas und Annatas nicht zugelassenen, meist internationalen Rebsorten aus der kuriosen Vermarktung als schlichte IGT-Weine herauszuholen. Gegenüber einer Riserva unterscheiden sich die Gran Selezione durch eine um sechs Monate auf 30 Monate verlängerte Lagerzeit, wovon drei in der Flasche sein können. Ferner ist die ausschließliche Verwendung eigener Trauben des Weinguts vorgeschrieben und ein Mindestalkoholgehalt von 13%, der im Gebiet des Chianti Classico ohnehin meistens locker überschritten wird. Inzwischen ist jeder zehnte Wein im Gebiet des Chianti Classico ein Gran Selezione.
San Marcellino Chianti Classico Gran Selezione 2011
Im Glas leuchtet der Wein in einem tiefen Purpurrot mit violetten Nuancen. Wir schnüffeln lange herum an einem Aromenrausch: Brombeeren, schwarze und rote Johannisbeeren, Zwetschgen, Holunder, schwarze Kirschen und kräftige Gewürze wie Rosmarin, Thymian, Wacholder und Nelken. Hinzu kommen Düfte von Blumen, Walderde, blondem Tabak und Vanille. Am Gaumen explodieren die Früchte mit einem deutlich süßlichen Schmelz und klassischen Röstaromen. Der Geschmack wird gestützt durch Noten von Tee, Lakritze, Edelbitterschokolade, Graphit und Herbstblättern. Das Finish ist saftig, würzig, fleischig und prall. In seinem noch jugendlichen Leichtsinn zeigt der Wein aktive Tannine hervor, die ihn im Abgang noch lange an der Zunge halten. Er ist bemerkenswert dicht strukturiert, hat einen vollen Körper und eine energische Säure, die zusammen mit der präsenten Mineralität nicht nur einen schönen, saftigen Abgang, sondern auch Langlebigkeit versprechen. Welch ein harmonischer, eleganter Wein, ein echter Grand Gru aus der Toskana, der trotz der Alkohollast von 15% dank der sanften Rebsorte Pugnitello eine genießerische Ruhe ausstrahlt. Mit ihm kann man erleben, welche Komplexität und Noblesse alte Reben liefern. Sie können die Flasche 15 bis 20 Jahre liegen lassen, oder Sie erfreuen sich und den Wein schon jetzt mit einem dicken Porterhouse Steak vom Grill.
Geremia Toscana 2012 IGT
Das ist der Supertuscan von Marco Ricasoli-Firidolfi, 62% Merlot und 38% Cabernet Sauvignon bei 14,5% Alkohol. Es ist natürlich kein Cinquecento, sondern ein Ferrari, der ein internationales Publikum einlädt. Er ist nach dem Familiengründer Geremia Ricasoli benannt.
Der Wein zeigt sich mit einer außergewöhnlichen Tiefe, Kraft und Intensität, durch die er mühelos viele Jahre altern kann. Es ist ein typischer Neue Welt Wein mit einer fruchtigen Struktur. Ein Wein, der das Terroir von Monti in die internationale Weinsprache des Cabernet und Merlot übersetzen soll. Chianti Classico meets Nappa Valley, so wollen es die Supertuscans. 6.636 Flaschen plus 300 Magnum-Flaschen sind von ihm abgefüllt worden.
Im Glas setzt der Wein gleich mehrere Wolken frei: Cassis, Brombeeren, Himbeeren und Zedernholz, gewürzt mit Salbei, Nelken, Menthol, Lavendel und Lakritze. Im Mund verteilen sich die Aromen und Geschmackserlebnisse auf reife schwarze Johannisbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Feigen, wieder etwas Zedernholz und Töne von Schokolade und Vanille. Im energiegeladenen Finish bestätigt sich seine energische Säure, sein zupackendes und dichtes, aber erstaunlich seidiges Tannin, und eine schöne Würze, alles gut eingebunden in eine überraschende Frische. Das ist Finesse ohne Schwert, vollmundig und keineswegs aufdringlich plump. Nach Börsenkriterien würde man den Wein auf langfristiges Halten setzen, aber wer kann schon jahrelang dem Anblick eines so fantastischen Weines widerstehen. Also Korken raus, rein in die Karaffe und nach vier Stunden der Solo-Genuss aus der Neuen Welt, die irgendwo im Chianto Classico liegt.
Vin Santo
Die Trauben für den Vin Santo werden auf verschiedene Weise im sogenannten Passito-Verfahren getrocknet, so dass sich der Zucker- und Säuregehalt in den Beeren erhöht. Der abgepresste Most kommt unvergoren in uralte 50 bis 100-Liter Holzfässer, den Caratellis, die traditionell aus Kastanienholz gefertigt sind, teilweise auch aus Akazie, Kirsche oder Wacholder, neuerdings aus französischer und slowenischer Eiche. Einige Winzer verwenden auch alte Marsala-Fässer oder wegen der Ähnlichkeit des Herstellungsverfahrens auch gebrauchte Balsamico-Fässer aus Modena. Zuvor war dem Most noch etwas „Madre“, der trübe Hefesatz aus dem gefüllten Wein des Vorjahres, zugefügt worden, um die Gärung zu initiieren. Das Fass wird fest mit Wachs verschlossen und bekommt für mehrere Jahre einen luftigen Platz in Wind und Wetter. In dieser Zeit gärt und reift der Most in unterschiedlichen, aber unkontrollierten Zyklen. Die Umgebungstemperatur regelt, wann die Gärung stoppt und neu startet und mit welchen Geschwindigkeiten im Verlauf der Jahre. Jedes Fass erzeugt durch die Hefe und den Zucker einen individuellen, voll-oxidierten Wein, von traumhaft bis misslungen. Infolge der Verdunstung durch die porösen Wände der alten Fässer sind sie Jahre später bei der Öffnung nur noch zu zwei Drittel oder zur Hälfte gefüllt.
Vin Santo del Chianti Classico DOC 2006
Im Glas schaukelt der Wein bedächtig mit Farbnuancen von Bernstein bis Mahagony. Er entwickelt ein sensationelles Aromenspektrum mit Mandeln, Honig, Crème brûlée, kandierten Orangen, Salbei, Rosinen, Marzipan, Zimt, Vanille, hellem Pfeifentabak und Kirschen. Man möchte schon den ersten Schluck nicht mehr aus dem Mund lassen. Er hat under cover einen unerwarteten Säurestamm, ähnlich einem deutschen Eiswein von der Mosel, der die Aromen stabil und die Süße auf gewisse Art filigran hält und nicht klebrig, marmeladig werden lässt. Wir schwelgen am Gaumen mit so unterschiedlichen Nuancen von Pflaumen in Madeira, wilden Blumen, Kokosnuss, Muskat, Karamell, getrockneten Feigen, kandierten Datteln, Bananen, Kaffee, Zuckersirup, schwarzen Kirschen, Vanille, Zimt, Schokolade und Nüssen. Manchmal gibt es einen Hauch von Leder und Zigarren. Im unendlichen Finish vereinen sich eine cremige Harmonie und die nostalgische Erinnerung an einen aromatisch äußerst komplexen Wein mit einer atemberaubenden Textur.
Nach toskanischer Tradition ist der Vin Santo der benvenuto, der Wein, mit dem der Gast in der Familie aufgenommen wird. Es gibt wohl überall auf der Welt keine schönere Begrüßung als ein Gläschen Vin Santo von Rocca di Montegrossi, einem der hochwertigsten Vin Santo des Chianti Classico und außergewöhnlichsten Elixiere der Weinwelt.
Raccolto 2016 Olio extravergine di oliva
Bei der fachgerechten Verkostung aus kleinen blauen Gläsern, in der das Öl vor dem ersten Schluck handgewärmt wird, erschnüffeln wir eine anhaltende Fruchtigkeit mit dem typischen Olivenaroma, dazu etwas grünes Gras und süßliche Apfelaromen. Im Mund verteilt sich ein spontaner Geschmack von Gewürzen, getrockneten Kräutern, Artischocke und Olivenfrucht, der zunehmend intensiver wird. Am Gaumen kommt ein leicht bitterer Geschmack mit einer herrlichen, verzögerten und knackigen Schärfe an, was – ähnlich wie die Säure beim Wein – mit der Fruchtigkeit harmoniert und für einen langen Abgang sorgt. Das Öl hat analytisch einen Säureanteil von unter 0,2% und extrem reduzierte Peroxyde, was die hohe Qualität bestätigt. Natürlich können Sie mit diesem exzellenten Öl wie üblich ein leckeres Bruschetta beträufeln. Aber genießen Sie es erst einmal pur und dann als Solisten auf einer leicht gerösteten Ciabatta-Scheibe.
Chianti Classico – Identität auf Abwegen?
Schon in den 90er Jahren öffnete das Consorzio Vino Chianti Classico unter dem Druck der großen toskanischen Export-Produzenten die Schleusen, als es gestattete, dem Sangiovese bis zu 20% jeder anderen roten Rebsorte hinzuzufügen. Das führte vielfach zu den berüchtigten Mischungen mit internationalen Rebsorten und zu eichenförmigen Weinen, in denen der Sangiovese kaum noch wahrnehmbar war. Die spätere Rebellion der Supertuscans gegen die Regularien des Konsortiums war weniger ein Schritt Richtung Hochwertigkeit, sondern der Versuch, die wegbrechenden amerikanischen Märkte mit den dort beliebten starken Holzweinen zu bedienen. Der Ruf nach der Erhöhung des Anteils internationaler Rebsorten auf 25% hält sogar noch an. Schon lange ist ein neuer Chianti Classico entstanden, der sich als weicher, cremiger und holzgeschwängerter Rotwein zwar des Punktehagels von Robert Parker Jr. erfreut, sich aber immer mehr entfernt von der traditionellen, über 300 Jahre gewachsenen Identität, die vom komplexen, eleganten, aromatischen und kantigen Sangiovese bestimmt wird, der im Weinberg gemacht wird und nicht im Keller. Markt und Geschmack – vor allem außerhalb Italiens, wohin fast 80% des Chianti Classico exportiert werden – werden in den nächsten Jahren bestimmen, was bleiben wird von der Einzigartigkeit, Vielfalt und Qualität des Chianti Classico.
14.11.2016
Fotos: © Rocca di Montegrossi